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2024

Der Wortklauber

Ich bin wirklich keine Karl-Kraus-Expertin, die kultische Verehrung, die er bei vielen, auch großen Journalisten (Gremliza! Hermann L. Gremliza, Herausgeber der Zeitschrift »konkret«, Anm.) genossen hat und genießt, hat mich oft abgestoßen, als ein Akt der Fetischisierung. Aber natürlich war er der große Meister der Sprache, mittels Ironie und Sarkasmus, die viele ja gar nicht verstehen. Sie haben kein Organ dafür übrig. Für sie hat, was Karl Kraus sagt, buchstäblich keinen Sinn. Es ist ja seltsam: Er scheint ihnen zu fehlen, dieser Sinn für diese Brechung der Wirklichkeit, die erst die Klarheit eines Tatbestands herbeiführt. Und da ist natürlich noch viel mehr, das sie nicht kennen. Es fehlt einem aber nichts, wenn einem das fehlt.

So fängt es schon einmal an. Da aber die Wirklichkeit meist ungebrochen bleibt, auch wenn man sie noch so sehr biegt, muß das Wort sich immer eine zweifache Möglichkeit zu sprechen erlauben: erlauben!, das hier ist mein Platz!, sagt das Wort. Es besteht auf diesem Platz, denn dort hat es eben diese zweite Wirklichkeit aufgepfropft bekommen, dort wurde sie ausgegeben, mit Gewinn, das freut das Börsel. Das Wort darf sozusagen zweimal um sich selbst würfeln und damit noch ein, zwei Felder vorrücken, als bewaffnete Phalanx gegen eigene Schlamperei und Ungenauigkeit. Es kann nicht bloß gegen jemand verwendet werden, sondern das kann alles sofort, beinahe im selben Satz, im Sprachgericht, das ständig tagt, sogar bei Nacht, gegen sich selbst verwendet werden, damit das Gericht, das bei Karl Kraus nicht kalt werden darf, in seinem Urteil noch mehr Sprachgewicht erhält, als es sich hätte ausdenken können. Häuptling Wort spricht mit gespaltener Zunge. Karl Kraus verwendet in seinen Spalten gleichzeitig beide Hälften, eine steht gegen die andre auf, wie zwei Schlangen, die sich aneinander aufrichten, um sich gegenseitig totzubeißen. Doch wir habens auch ein bisserl kleiner: Die Welt will ihr Colportagebedürfnis befriedigt sehen, bevor der Zug des Herzens unter großer Anteilnahme in der Ferne verschwunden ist, es waren ohnedies nur noch Stehplätze vorhanden: Wird die Mutterliebe von Prinzessin Louise siegen oder nicht? Nein, sie wird nicht gesiegt haben. Und aus dem Schweizer Sanatorium, in das die Hoheit aus ihrem Hoheitsgebiet verbracht wird, sprießt sofort das Werbebäumchen, denn das ist natürlich Anlaß für Reklame für?, fürs Sanatorium. Und der Sprache ist natürlich nichts heilig, und Karl Kraus schon gleich gar nichts. Die "Kaiserliche Wiener Zeitung" (für die wir vor kurzem noch so gekämpft haben, aber nicht füs Kaiserliche, sondern nur für das, was uns vom Tage übrigblieb, was ist uns andres übriggeblieben?) hat etwas noch nie Dagewesenes zu bieten: Sie wird nicht unter Druck, nein, die Rotationspresse wird dieses Blatt vielmehr unter Hochdruck herausdrücken, damit viele Menschen sich ausdrücken können. Das ist viel mehr, als wir sonst bekommen. Die Espresse (ich glaube, die Zunge hat sich jetzt schon drei-, nicht zweigeteilt, schauen wir mal, ob es noch mehr Teile werden, die wir aus dieser Presse herauspressen können) wird in Gang gesetzt, ein Phänomen, das man vorher noch nie gesehen hat, und "die Betriebskraft wird durch den Flügelschlag des Doppeladlers erzeugt" (der Adler hat sich also auch verdoppelt, ein Naturwunder!), unter seinen stolzen Fittichen hat das kaiserliche Wappentier 120 Seiten textlicher Reclame ausgeschieden, die Aufnahmebedingungen in diesen exklusiven Orden wurden an die österr. Industriellen verschickt, plus Preisliste, die alle Angebote genauestens auflisten wird; schließlich geht es ja um die List einer Liste, die die Leute ausnehmen will, was sie natürlich nicht so deutlich sagt, damit die Bedeutenden, die wissen, was das bedeutet, sich als Ausnahmemenschen fühlen dürfen: als Speerspitze des Unternehmergeists in Österreich am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Zeitung wird von hohem culturhistorischem Wert sein, "es wird mindestens für 80.000 Kronen österreichische Zeitungscultur in ihr stecken". Und ich habe hier auch kräftig was hineingesteckt, was mir sicher nichts einbringen wird, wie ich zu meinem Bedauern feststellen werde müssen. Und weiter geht es mit folgendem Wortlaut, damit ich dem Wort zumindest eine seiner Zungen ausschneiden und im Buch der blöden Sprüche einkleben kann:

Durch Karl Kraus bleiben die Dinge, die er entlarvt, quasi ewig so stehen, gerade indem er sie entfernen bzw. richtigstellen will. Da das nicht möglich ist, kehrt er jedes Ding gegen sich selbst, und dann wie gesagt jedes einzelne Wort, das den Autor zum Kuppler macht, weil er es mit einem andren zusammenkuppelt, das wiederum scharf auf das nächste ist, das sieht man dem Wort an, da muß man ihm nicht eigens sagen, was es sagen soll. Kein Wunder, daß Karl Kraus so heftig gegen den Kuppeleiparagraphen polemisiert. Der Autor konnte wie immer nicht anders, weil er es immer anders auch konnte. Aber die Sprache, seine Sprache, die das Liebespaar Wort und Sprache aus den Absteigequartieren treibt, in das sie sich zu verkriechen suchten (und auch diese Absteige ist gespalten, vorn dient sie der Volksbildung, hinten der Vermittlung von Körpern), die Sprache also kann wie immer alles, sie treibt Ästchen um Ästchen heraus, wie Gott (der ist nur dreigeteilt, dann ist Schluß mit lustig). Sie kann sich durch sich selbst erklären, auch ihre Abgründe der Infamie, die manche so produzieren, wenn der Tag zu lang ist. Die Sprache könnte auch anders, aber sie kann halt oft nicht anders. Dafür hat sie jede Menge Werkzeug, aber keine Lehrlinge, wie soll sie da jemanden ausbilden, der nicht Karl Kraus bereits ist? Und oft kann sie gar nichts. Das ist auch so gewollt. Wer sie schändet, der schändet die Welt, die ja aus Sprache besteht. Und statt etwas zu sagen, hätten die Ziele der Krausschen Spottlust besser nichts gesagt, geschwiegen, was ihm aber auch nicht gefallen hätte, denn dann hätte er auch nichts dazu sagen können. Aber er hat auch sehr viel anderes gesagt, das uns bleibt, wenn uns schon nichts andres übrigbleibt, als Blödsinn zu reden.

So. Jetzt sage ich was andres auch noch, es ist mein Bedürfnis, etwas zu sagen, das andre nicht sagen würden, jedenfalls so nicht: Das Fleisch ist Wort geworden und hat in dieser Form besonders gemütlich unter uns gewohnt, weil ihm das Gewohnte nicht mehr gegönnt werden soll, es will endlich was Besseres, etwas Grenzenloses. Das Fleisch sollte besser einen Schritt vor dem Wort zurücktreten und noch einmal oder ein paarmal überprüfen, ob das Wort ihm noch paßt, oder ob es zu eng, zu weit, zu klein, zu groß geworden ist, oder ob es sich gleich ein neues anlegen, zulegen (oder kaufen) soll, das es dann vielleicht behalten wird. Das alte hat es ja zu sich selbst verwandelt, es ist jetzt viel mehr, als Wort kann es viel mehr anfangen, es kommt herum! Der Sieger behält alles. Ich schlage die "Fackel" an einer beliebigen Stelle auf, verbrenne mich sofort, aber eine Fackel kann man nicht dimmen, wie es einem gefällt, man kann sie nur brennen lassen oder auslöschen, und was in einer großen Zeit, die Kraus zum Glück nicht mehr erlebt (und ein großer Teil seiner Familie nicht überlebt) hat, im Bemühen, ihre Kleinheit immer wieder darzustellen, da hingestellt gelassen hat, das bleibt auch da picken; ich schlage sie auf, die Zeit, ich schlage nicht zu, das haben andre gemacht, ich schlage sie also auf und lese: "Und wieder einmal zerbrach sich — am 30. Jänner — der Börsenwöchner den Kopf über das Schicksal der Exkronprinzessin Louise, und wieder einmal constatierte er: ‹auch auf den Thronen rühren sich die mächtigen Instincte, auch unter dem Purpur schlagen fehlbare Herzen›". Ja, die Blitze der Leidenschaften, wohin sollen wir sie jetzt ableiten? Und Wortklauber Kraus fährt, zuckend unter seiner schweren Last, er fährt mit Nestroy, einem seiner nahen Verwandten, fort, ohne wirklich fortfahren zu wollen, denn es geht ja immer weiter, fahren muß man gar nicht, um hinzukommen, wo man punktgenau landen will, das Fleisch ist schließlich genauso haltbar wie das Wort, in das es sich verwandelt hat, und das nie bleiben will, wo man es hingeschrieben hat; das Fleisch also bietet sein Wort auf, es kann nicht anders, denn es ist jetzt Wort, es ist alle Worte, die ihm einfallen, es hat sich ja in Wort verwandelt, ohne irgendwas verwandeln zu müssen, es bleibt doch alles, wie es ist, trotz heftigster Deformationen, Nestroy also, in Übersetzung der krönenden Leidenschaften: "Auch der Commis hat Stunden, wo er sich auf ein Zuckerfass lahnt und in süße Träumereien versinkt". Das verstehen wir, aber ist es auch verständlich? Lassen wir unser Bewußtsein prüfen, aber es prüft nicht, da es selbst ständig geprüft wird und lernen muß, alles auszusprechen, wirklich alles, was gedacht werden kann, so wirds gemacht, denn das Wort ist immer auch Gedanke, falls es sich dieses Kleid, unabhängig von Mama Fleisch, anziehen möchte. Es prüft, es strudelt sich Nahrung zu wie ein Pantoffeltierchen, es vergleicht den Gegenstand mit der Gegenständlichkeit, der Gedanke hat seinen Auftritt, das Wort eilt auf ihn zu, um nichts zu versäumen, denn es soll ja den Gedanken in der Welt ordentlich vertreten, das Wort vertritt sich die Beine des Gedankens, na, kommt da noch was?, und es tritt zur Prüfung nicht an, das ist zu gefährlich, zu anstrengend, zu mühsam, es versteift sich, gemeinsam mit dem Bewußtsein, auf das bloße Meinen, das nun wirklich nackt und bloß daliegt, vor Königsthronen oder vor Greißlereien, Gemischtwarenhandlungen, welches das Wort vorgeschickt hat, um das Meinen zu studieren und an den Mann zu bringen, wie man sagt, und das Bewußtsein versteift sich, es versteift sich auf das Meinen, weil jeder zu den Königsthronen sagen kann: meins!, könnte auch meins sein!, sollte meins sein!, warum sage ich es dann nicht, okay, ich sage es, und das Wahre wird ungeprüft als Ware, gedruckt, in Flammenschrift auf Bildschirmen, verlautbart wieder von andren Schirmen, die es vielleicht gar nicht auf dem Schirm gehabt hätten, als das absolut und einzig Wahre ausgegeben. Wir stehen schon am Schalter und warten, daß wir wieder etwas ausgeben können, das dann das Unsrige ist, ohne einen ausgeben zu müssen. "Wir haben auf allzu noblem Fuß gelebt, und wir verlangen endlich wieder den befreienden Ruf zu hören: ‹der Zinsfuß ist mit uns!›" Das Fleisch hat sich auf die Füße gestellt und das Wort wieder in sich zurückverwandelt. Jetzt kann es endlich sagen, was es will. Karl Kraus lebt hier nicht mehr.


Vorwort zum Buch "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus - Dramatische Chronik des Ersten Weltkriegs in 1500 Photographien und 431 Zitaten, hsg.: Paulus Manker
Erscheinungstermin: 2.9. 2024


Veröffentlicht am 09.06.2024 auf elfriedejelinek.com